»Der letzte Mensch» (OT: »The Last Man«): Hätte ich diese Dystopie der Mary Shelley im März 2020 gelesen, als die erste Welle der Corona-Pandemie ihren Höhepunkt bei uns in Deutschland erreichte – ich glaube, ich wäre für lange Zeit in eine tiefe Verzweiflung gesunken oder völlig panisch geworden!

Selbst jetzt habe ich an einigen Stellen des Romans eine solche Beklommenheit verspürt, dass ich es nur schwer in Worte fassen kann. Zu viele Parallelen zur Corona-Pandemie gibt es und so viele Erinnerungen an die damalige Angst kamen hoch. Da war es wieder – das Gefühl, von etwas Grauenhaftem überrollt zu werden; dem, was geschieht, hilflos ausgeliefert zu sein ebenso wie jene, von denen man eigentlich Rat und Hilfe erwartet hätte: Politiker, Wissenschaftler und Mediziner…

Der letzte Mensch – Mary Shelley (1826)

Die Pest breitet sich in »Der letzte Mensch« zunächst vereinzelt in anderen Ländern aus, Naturkatastrophen folgen. Die Engländer fühlen sich auf ihrer Insel und in ihrer Klimazone sicher und verspüren daher zunächst keine Furcht. Empfanden wir anfangs nicht auch so? Dachten wir nicht – die Globalisierung nicht beachtend – die Seuche betreffe eher das weit entfernte China?

(Bild links: u_wffnhrgtg0/Pixabay)

Der letzte Mensch – kleine Vorgeschichte

Mary Shelley (1797-1851) durchlebte eine dunkle Zeit, als sie zwischen 1824 und 1825 an »Der letzte Mensch« schrieb. Sie hatte in den vergangenen Jahren ihren Mann Percy, drei ihrer vier Kinder und viele gleichgesonnene Freunde verloren. Percy Bysshe Shelley war 1822 beim Segeln ertrunken, Lord Byron 1824 im griechischen Messolongi gestorben, John Polidori 1821 wahrscheinlich durch eigene Hand umgekommen [1]. Vorbei jene Zeiten in der Villa Diodati, als man 1816, im Jahr ohne Sommer [2], freie Liebe lebte (allerdings auch hier nicht frei von Eifersucht und Kränkungen!), gemeinsame Bootsausflüge machte, sich gegenseitig vorlas und die Grundsteine zu Werken der Weltliteratur legte – wie Mary Shelley zu »Frankenstein oder Der Moderne Prometheus« [3].

In »Der letzte Mensch« verewigt und idealisiert Mary Shelley eben diese vertrauten Gefährten ihres Lebens und der Villa-Diodati-Gemeinschaft: in Adrian können die Leser Percy Bysshe Shelley wiedererkennen, im Kriegshelden Raymond Lord Byron (der sich ja auch im griechischen Freiheitskampf engagierte), in Lionel Verney Mary Shelley selbst [4].

Der letzte Mensch – die Handlung

Die Erzählerin, die 1818 in der Nähe von Neapel in die dunkle und schwer zugängliche Höhle der antiken Zukunftsdeuterin Sibylle von Cumae [5] vordringt und dort beschriftete Blätter und Rindenstücke findet, ist Mary Shelley selbst. Zu ihrem Erstaunen sind die Texte der sibyllinischen Blätter in den verschiedensten modernen Sprachen verfasst. Aus den oftmals unzusammenhängenden Botschaften formt und verfasst sie das Werk »Der letzte Mensch«. So beschreibt es Mary Shelley in der Einleitung zu ihren drei Bänden und verleiht auf diese Weise den fiktiven Geschehnissen, die zum Untergang der Menschheit führen, eine gewisse Authentizität.

Großbritannien im 21. Jahrhundert: in dieser für Mary Shelley Zeitgenossen fernen Zukunft ist das Land eine Republik, in der die Wohlhabenden wie zuvor wohlhabend, die Habenichtse nichtshabend und alle miteinander auf sich und ihr Inselreich unsagbar stolz sind. Die Menschheit reist zwar noch in Kutschen und per Schiff, aber auch komfortabel und schnell durch die Lüfte: in Segelbarken, die dank gefiederter Ruder mühelos zu lenken sind.

»Die Lebenskünste und die Entdeckungen der Wissenschaft hatten in einem Verhältnis zugenommen, das alle Hochrechnungen übertraf; inzwischen entstand Nahrung sozusagen spontan – es existierten Maschinen, die jeden Bedarf der Bevölkerung mit Leichtigkeit versorgten.«

Shelley, Mary, »Der letzte Mensch«, 590 Seiten, Übersetzung und Anmerkungen von Irina Philippi, Nachwort von Rebekka Rohleder, Essay von Dietmar Darth, Ditzingen 2023, S. 126/127.

Die ehemaligen Mitglieder des Königshauses fungieren als Grafen von Windsor, wohl versehen mit Reichtümern und Gütern, zu denen auch Schloss Windsor gehört.

(Bild rechts: Mary Bettini Blank/Pixabay)

Der letzte Mensch – Mary Shelley (1826)

Adrian, der Sohn des verstorbenen Ex-Königs, und seine Schwester Idris befreunden sich mit Lionel Verney, der die Geschichte aus seiner Sicht erzählt, und dessen Schwester Perdita. Lionel und Perdita leben in Armut. Ihr Vater war einst ein Günstling des Königs. Wegen seiner Spielsucht und auf das Betreiben der Königin hin war er in Ungnade gefallen und hatte sich, völlig verarmt, das Leben genommen.

Erst Adrian entdeckt den Brief Verneys, in dem er den König vor seinem Freitod um Verzeihung und Unterstützung für seine Kinder gebeten hatte. Der republikanisch gesonnene und feingebildete Adrian möchte an Lionel und Perdita das einstige Unrecht wieder gutmachen und nimmt sich ihrer an. Raymond stößt zu dem Quartett, als er aus dem Krieg zwischen den Türken und den Griechen nach England zurückkehrt, um die Königswürde anzustreben. Was läge näher, als Idris, die Tochter des letzten Königs, zu freien? Jedoch verliebt sich der ehrgeizige Raymond in Perdita und lässt für sie von seinen hochfliegenden Plänen ab. Die beiden heiraten. Auch Idris und Lionel finden zueinander.

Zu Fünft leben sie auf Schloss Windsor ein glückliches Leben, beschäftigt mit philosophischen Studien und Diskussionen, erfüllt von liberalen und philanthropischen Idealen.

»[…] wahrhaftig, unser Leben war ein lebendiger Kommentar zu diesem schönen Ausspruch von Plutarch, dass unsere Seelen eine natürliche Neigung haben zu lieben, dazu geboren werden, ebenso zu lieben, als zu fühlen, zu denken, zu verstehen, zu erinnern. Wir sprachen von Veränderungen und davon, diese in die Tat umzusetzen, blieben aber in Windsor, unfähig, den Zauber zu brechen, der uns an unser abgeschiedenes Leben fesselte.«

Shelley, Mary, »Der letzte Mensch«, 590 Seiten, Übersetzung und Anmerkungen von Irina Philippi, Nachwort von Rebekka Rohleder, Essay von Dietmar Darth, Ditzingen 2023, S.110.

Bis die Sehnsucht, etwas zu bewirken und unsterblich zu werden, einen aus dem Bunde löst: Raymond zieht es nach London und schließlich nach Griechenland, wo er im Freiheitskampf der Hellenen gegen die Türken zum Helden wird und in Konstantinopel bei einer Explosion im Feuer umkommt. Perdita, die mit Lionel und Tochter Clara Raymond gefolgt war, nimmt sich das Leben, als Lionel sie zurück nach England bringen will. Zu diesem Zeitpunkt, dem Jahr 2092, tritt die Pest in Teilen Asiens auf.

Lionel fühlt sich geborgen, als er sein früheres, von der Hektik der Welt abgeschiedenes Leben in Windsor mit Idris, seinen Kindern und Adrian aufnimmt, doch es bleibt ihnen nicht mehr viel Zeit.

Der letzte Mensch – Mary Shelley (1826)

Die Pest erreicht auch England, begleitet von unheimlichen Naturerscheinungen und -katastrophen wie in den anderen Teilen der Erde zuvor.

(Bild links: ThankYouFantasyPictures/Pixabay)

Adrian und Lionel versuchen, für Ruhe und Stabilität im Land zu sorgen, den Menschen zu helfen, wo es möglich ist. Lionel erkrankt an der Pest, überlebt, verliert aber seine Frau Idris. Lionel und Adrian müssen einsehen, dass nichts die Menschheit vor der Pest retten kann. Trotzdem versuchen sie, mit den wenigen Überlebenden in südlichen Gefilden Zuflucht zu finden. Ihr Weg führt sie über Frankreich – wo ein religiöser Fanatiker die Verzweiflung der Menschen ausnutzt und viele mit sich in den Tod reißt – in die Schweiz, verfolgt von zermürbenden gespenstischen Halluzinationen.

»Wir waren ein kläglicher Überrest, willens, uns dem kommenden Schlag zu ergeben. Ein Zug, der vor Angst beinahe tot umsank – eine hoffnungslose, widerstandslose, beinahe gleichgültige Mannschaft, die in der windgepeitschten Lebensbarke das Steuern aufgegeben hatte und sich der zerstörerischen Kraft der zügellosen Winde überließ.«

Shelley, Mary, »Der letzte Mensch«, 590 Seiten, Übersetzung und Anmerkungen von Irina Philippi, Nachwort von Rebekka Rohleder, Essay von Dietmar Darth, Ditzingen 2023, S. 490

In den Alpen begraben Adrian, Lionel, Clara und Lionels kleiner Sohn Evelyn nach sieben Jahren Pest den letzten jener Menschen, die mit ihnen ausgezogen waren. Sie beschließen, nach Italien zu wandern, wo sie noch einige Wochen des Glücks genießen können, bis auch ihr Schicksal sich erfüllt und nur noch einer übrigbleibt –

– der Erzähler Lionel Verney.

(Bild rechts: Meranda D/Pixabay)

Der letzte Mensch – Mary Shelley (1826)

Der letzte Mensch – Mein Fazit

»Der letzte Mensch« mit den eindringlichen, apokalyptischen, zugleich lyrischen Schilderungen Mary Shelleys und den von ihr passend ausgewählten und in den Text eingefügten Zitaten (aus der Feder von Autoren der Antike bis zu ihrer Zeit stammend) hat mich aufgewühlt, zutiefst berührt und gleichzeitig bezaubert. Ganz im Stil der Romantik versuchen Lionel und seine Freunde anfangs und auch später noch auf Schloss Windsor der Welt zu entfliehen und sich den Schönheiten der Natur zuzuwenden:

»Wer, der weiß, was Leben ist, würde sich nach dieser fiebrigen Art des Daseins sehnen? […] Lasst uns füreinander und für das Glück leben; lasst uns Frieden in unserer geliebten Heimat, an den murmelnden heimatlichen Bächen, unter dem anmutigen Wippen der Bäume, dem schönen Gewand der Erde, und unter der erhabenen Pracht des Himmels suchen. Lasst uns das »Leben« verlassen, damit wir leben können.«

Shelley, Mary, »Der letzte Mensch«, 590 Seiten, Übersetzung und Anmerkungen von Irina Philippi, Nachwort von Rebekka Rohleder, Essay von Dietmar Darth, Ditzingen 2023, S.254.

Und ebenfalls im Stil der Romantik offenbart der Erzähler Lionel Verney anfangs seine verrohte, später empfindsam-mitfühlende Seele, seine dem Erhaben-Schönen zugewandten Gefühle sowie sein Denken, das (der Zeit gemäß) rassistische, patriarchalisch-chauvinistische Komponenten offenbart: Einige Male lässt Mary Shelley ihn die Überlegenheit des Menschen (des männlichen Engländers im Besonderen) und des Fortschritts durch menschliche Innovationen loben.

Der letzte Mensch – Mary Shelley (1826)

Zugleich sagt die Autorin der romantischen Ära und der Überlegenheit menschlichen Handelns und Fühlens ein unabwendbares Ende voraus. Die Seuche und die Allmacht der Natur obsiegen.

(Bild links: ThankYouFantasyPictures/Pixabay)

Lionel muss erkennen, dass der sich den Engeln fast ebenbürtig fühlende Mensch lediglich eine »Eintagsfliege«, »eine Quintessenz von Staub« ist (Seite 462). Wie sie selbst, Mary Shelley, es ist? Wie Percy Bysshe Shelley und Lord Byron es waren?

Dieses Buch ist unbedingt lesenswert!!!

Der letzte Mensch – Quellen und Weblinks

[1] Vgl. Wikipedia, Mary Shelley, 5. September 2023, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Mary_Shelley&oldid=237062609 [abgerufen am 10.11.2023]

[2] Vgl. Meine Leselampe vom 16.10.2020 -> https://www.meineleselampe.de/ein-vampir-john-polidori-1819/

[3] Vgl. planet-wissen (WDR), Britische Schauergestalten: Frankenstein, Stefan Morawietz, 2003, letzte Aktualisierung 13.7.2019, online: https://www.planet-wissen.de/kultur/fabelwesen/britische_schauergestalten/pwiefrankenstein100.html [14.11.2023] oder siehe Meine Leselampe-Filmtipp: am 3.12.2023 in ZDFneo und anschließend in der ZDFmediathek-> https://www.zdf.de/filme/spielfilme/mary-shelleys-frankenstein-100.html [14.11.2023]

[4] Vgl. Wikipedia, Verney, der letzte Mensch, 19.7.2023, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Verney,_der_letzte_Mensch&oldid=235614029 [14.11.2023]

[5] Sibylle von Cumae -> vgl. web.de, Mystery: Cumae, das zuverlässigste Orakel der Antike, Claudia Frickel, 5.7.2017, online: https://web.de/magazine/wissen/mystery/mystery-cumae-zuverlaessigste-orakel-antike-32410360 [14.11.2023]

[6] Vgl. studysmarter.de, Englische Literaturepochen, online: https://www.studysmarter.de/schule/englisch/englische-literatur/englische-literaturepochen/ [16.11.2023]

Der letzte Mensch – mein Leseexemplar (Werbung)

Shelley, Mary, »Der letzte Mensch«, 590 Seiten, Übersetzung und Anmerkungen von Irina Philippi, Nachwort von Rebekka Rohleder, Essay von Dietmar Darth, Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2023.

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Der letzte Mensch – Mary Shelley (1826)