Besuch im »Kabinett der Phantasten« am 31. Oktober 2024 – welch anderer Ausflug könnte zu Halloween besser passen?! Und daher:
Willkommen bei der schwarz-roten Buchreihe des JMB-Verlages [1], die für Freunde viktorianischer Schauer-Literatur eine wahre Fundgrube an literarischen Schätzen ist: dem Stil der Zeit angemessen übersetzt, mit einem Nachwort versehen, in dem ich literaturwissenschaftliche und biographische Fakten finde und das alles zu einem erschwinglichen und mehr als fairen Preis. Ein Hoch und einen Dank für diese gelungenen Werke.
Inhalt
»Kabinett der Phantasten« – Einführung
Unser Gastgeber (sozusagen) im »Kabinett der Phantasten« ist Heiko Postma, Schriftsteller, Übersetzer, Vortragskünstler und Herausgeber [2], ihm ist diese Reihe zu verdanken. Seit 2010 übersetzt Postma Werke aus der Feder internationaler AutorInnen des 18. und 19. Jahrhunderts (pro Schriftsteller jeweils eine phantastische Erzählung) und versieht sie mit aufschlussreichen Nachworten. Längst stehen Postma weitere ÜbersetzerInnen zur Seite, damit möglichst viele Sprachen und damit AutorInnen berücksichtigt werden können. Das »Kabinett der Phantasten«, das im JMB Verlag erscheint, umfasst mittlerweile – sofern ich richtig gezählt habe – 119 Bände!
»Kabinett der Phantasten« – Meine Exemplare
Zunächst war ich etwas überfordert angesichts der riesigen Auswahl: was soll ich bestellen? Am liebsten ja alle Bücher, aber ich habe bescheiden mit vier Titeln angefangen (werde mich aber weiter »durcharbeiten«). Als da wären:
»Schalken der Maler« (OT: »Schalken The Painter«), 1851 von Joseph Sheridan Le Fanu verfasst.
und
»Die Geschichte des alten Kindermädchens« (OT:»The Old Nurse’s Story«), 1852 von Elizabeth Gaskell für die Weihnachtsausgabe von Charles Dickens »Household Words« geschrieben.
»Heimgesuchte und Spukgestalten oder Das Haus und das Hirn« (OT: »The Haunted and the Haunters or The House and the Brain«), eine wirklich grausige Geschichte, die Edward Bulwer-Lytton 1859 ersonnen hat.
»Der Signalwärter« (OT:»The Signal-Man«), die Charles Dickens im Dezember 1866 in der Weihnachtsnummer seiner Zeitschrift »All The Year Round« veröffentlicht hatte, zusammen mit weiteren Erzählungen aus dem Zyklus »Bahnknotenpunkt Mugby« [3].
Woher stammt eigentlich die Vorliebe der Engländer, an Weihnachten Gruselgeschichten zu erzählen und zu hören? Zumindest war das im 19. Jahrhundert so …
»Kabinett der Phantasten« Nr.10 – »Schalken der Maler«
Joseph Sheridan Le Fanu stellt es geschickt an: seine Protagonisten sind historisch verbürgte Persönlichkeiten des 17. Jahrhunderts, genauer gesagt: zwei führende niederländische Maler, und so wird der phantastischen und durch und durch fiktiven Geschichte ein Anstrich von Realität verliehen.
Der junge und talentierte Maler Godfred Schalken [4] liebt Rose Velderkaust, das schöne Mündel und die Nichte seines Meisters und Mentors Gerard Douw [5]. Rose erwidert seine Gefühle, doch beide sind arm und so will Schalken es künstlerisch und finanziell erst einmal zu etwas bringen, bevor er um die Hand seiner Herzensdame anhält. Wie so oft im wahren Leben, werden auch bei Le Fanu löbliche Tugenden wie Geduld, Ausdauer und Fleiß nicht belohnt.
Ein unheimlicher Fremder – ein Mijnheer Vanderhausen aus Rotterdam – erscheint und verlangt von Douw die Hand der bezaubernden Rose. Vanderhausen ist alt und eine unheimliche leichenhafte Erscheinung: die Haltung steif, das Gesicht bläulich-grau, die Lippen nahezu schwarz … Aber er ist reich, verspricht und beweist, dass für Rose mehr als gut gesorgt sein soll und – den Bräuchen der Zeit entsprechend – gibt Douw ihm daraufhin sein Mündel zur Frau. Nach der Hochzeitszeremonie wird Rose von ihrem Ehemann sogleich nach Rotterdam gebracht und Douw und Schalken hören für lange Zeit nichts mehr von der jungen Frau. Ihre Spur hat sich verloren, alle angestellten Nachforschungen führen ins Nichts.
Zweimal wird Schalken seine Rose unter dramatischen und mysteriösen Umständen noch sehen – zuletzt nach vielen Jahren in einer Gruft. Oder war jene Begegnung, die der Maler auf der Leinwand verewigen wird, am Ende nur ein gespenstischer Traum?
»Kabinett der Phantasten« Nr.29 – »Die Geschichte des alten Kindermädchens«
Die kleine Miss Rosamond hat früh ihre Eltern verloren und wird von ihrem treu ergebenen, ja, sie vergötternden Kindermädchen Hester betreut. Ihr Vormund lässt die beiden auf den abgelegenen und düsteren Familiensitz Furnivall Manor House bringen, der nur noch von seiner alten Tante, deren Gesellschafterin und einigen Dienstboten bewohnt wird. Zunächst erkunden Hester und Miss Rosamond unbekümmert das riesige Haus und bestaunen die vielen altmodischen Schätze, die es birgt. Als der Winter naht, passieren unheimliche Dinge: Jemand im Haus spielt des Nachts auf einer zerstörten Orgel. Die Dienstboten wollen Hester darüber nichts sagen und sie gewöhnt sich an das geisterhafte Orgelspiel. Doch es kommt schlimmer.
Ein kleines Mädchen lockt Miss Rosamond in einer eisigen Winternacht hinaus ins Freie, auf die Fells (das sind Berge oder Hügel) hinauf und versucht danach immer wieder, ins Haus hineinzukommen. Und dann spielt sich eine Familientragödie aus längst vergangenen Tagen noch einmal vor den Augen der lebenden Bewohner von Furnivall Manor House ab und bringt einem Menschen den Tod.
Wehe, wenn Deine bösen Taten Dich einst heimsuchen! Ich glaube nicht, dass Elizabeth Gaskell diese Geschichte ihren Kindern vor dem Zubettgehen erzählt hat!
»Kabinett der Phantasten« Nr.14 – »Heimgesuchte und Spukgestalten«
So umständlich und lang der Titel auch ist, den Edward Bulwer-Lytton gewählt hat, so spannend und grausig ist seine Erzählung!
Es geht um ein – zumindest äußerlich – normal erscheinendes Haus in der respektablen Oxford Street in London und sein ganz und gar nicht normales Innenleben. Die Zimmer des Gebäudes sind zu vermieten, doch niemand hat es bisher länger als drei Nächte ausgehalten. Die Atmosphäre ist beklemmend und Unbeschreibbares geht um. Eine alte Frau, die im Auftrag des Besitzers das Haus lange Zeit in Ordnung hielt, wird eines Tages, mit entsetzt aufgerissenen Augen, tot in ihrem Bett gefunden.
So stehen die Dinge, als Bulwer-Lyttons Ich-Erzähler auftritt: Ein Mann, der sich als pragmatisch und nervenstark beschreibt, der allerlei gefährliche Situationen durchstanden und Erfahrungen mit vermeintlich übersinnlichen Phänomenen gemacht haben will. Gemeinsam mit seinem Diener und seinem Hund, versehen mit scharfen Waffen und stärkender Lektüre gegen alle möglichen Leib und Seele bedrohenden Gräuel bezieht er das Haus für eine Nacht, um dem Spuk auf den Grund zu gehen.
Er möchte seine Theorie beweisen, dass es nichts Übernatürliches gibt, sondern es sich lediglich Erscheinungen oder Prozesse handelt, die der Wissenschaft zu jener Zeit nicht bekannt und daher nicht zu benennen sind. Eine beklemmende Atmosphäre empfängt sie; sie hören trippelnde Schritte überall; Fußspuren erscheinen vor ihnen aus dem Nichts; Türen öffnen und schließen sich; eine schemenhafte Gestalt zeichnet sich auf einem Stuhl ab; irgendetwas schlägt den Diener heftig – von Anfang an werden die Männer mit gespenstischen Vorkommnissen konfrontiert, die an Intensität zunehmen, je weiter die Nacht fortschreitet.
Nach einigen Stunden erträgt der Diener das Grauen nicht mehr und er stürzt panisch aus dem Haus. Der Hund wird aus Angst wild und irr‘. Nur unser Erzähler versucht, einen klaren Kopf zu bewahren und keine Angst in sich aufkommen zu lassen – bis eine eiskalte, dunkle Präsenz neben ihm aus dem Nichts erwächst, den Raum erfüllt und versucht, ihn zu bezwingen.
Woher kommt der Spuk und gibt es tatsächlich einen realen oder wissenschaftlich belegbaren Hintergrund für all das Grauen in dem jenem Haus in der Londoner Oxford Street?
»Kabinett der Phantasten« Nr. 25 – »Der Signalwärter«
Charles Dickens »Der Signalwärter», eine Erzählung über die Visionen eines kommenden Unglücks, einer sich anbahnenden Katastrophe, ist überaus beklemmend und lässt die Leser schaudern – so sie denn nicht zu abgebrüht sind. Ich möchte hier und heute nicht mehr darüber schreiben, denn sie passt inhaltlich in eine frühere Meine-Leselampe-Beitragsreihe über Charles Dickens »Weihnachtserzählungen« (siehe [3], Quellen und Weblinks). Und dort möchte ich sie einfügen und erst dann veröffentlichen.
Doch ich kann »Der Signalwärter« genauso sehr empfehlen wie die drei vorgestellten Erzählungen. Die viktorianischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind Meister des Unheimlichen, welches sie – wie Heiko Postma in einem seiner wunderbaren Nachworte feststellt – oft mit Elementen des Realen verbinden, an diesen aber stets einen Zweifel lassen und so den Effekt des Grauens erhöhen.
»Kabinett der Phantasten« – Quellen und Weblinks
[1] Heiko Postma, Kabinett der Phantasten, online: https://www.heikopostma.de/kabinett-der-phantasten/ [28.10.2024]
[2] Wikipedia, Heiko Postma, 7.9.2024, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Heiko_Postma&oldid=248400344 [28.10.2024]
[3] Genau diese Geschichte hatte mir bisher gefehlt in -> https://www.meineleselampe.de/buchtitel/mugby-junction/
[4] Wikipedia, Godefridus Schalken, 23.10.2024, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Godefridus_Schalcken&oldid=249683814 [30.10.2024]
[5] Wikipedia, Gerard Dou, 13.5.2024, online: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gerard_Dou&oldid=244932835 [30.10.2024]
»Kabinett der Phantasten« – Bezugsquellen
Die Bücher der Reihe »Kabinett der Phantasten« erhaltet Ihr
- einzeln oder sogar im Abonnement natürlich beim JMB Verlag unter diesem Link: https://www.jmb-verlag.de/produkt-kategorie/literatur/heiko-postma/kabinett-der-phantasten/,
- beim Buchhändler Eures Vertrauens und
- bei Amazon:
Le Fanu, Joseph Sheridan, Schalken der Maler, übersetzt und mit einem Nachwort von Heiko Postma, 45 Seiten (incl. Nachwort), JMB Verlag, 2013.
Bulwer-Lytton, Edward, »Heimgesuchte und Spukgestalten oder Das Haus und das Hirn«, übersetzt und mit einem Nachwort von Heiko Postma, 54 Seiten (incl. Nachwort), JMB Verlag, 2012.
Dickens, Charles, »Der Signalwärter« Bahnknotenpunkt Mugby, Zweigstrecke No. 1), übersetzt und mit einem Nachwort von Heiko Postma, 29 Seiten (incl. Nachwort), JMB Verlag, 2011.
Gaskell, Elizabeth, »Die Geschichte des alten Kindermädchens«, übersetzt und mit einem Nachwort von Heiko Postma, 43 Seiten (incl. Nachwort), JMB Verlag, 2012.