“Der Würger von Notting Hill” (1970)

Meine Leselampe-Vorschau 22/KW 03/"Der Würger von Notting Hill"

Klingt wie ein Edgar-Wallace-Krimi, ist aber ein Sachbuch über Kriminalität – auch in der viktorianischen Epoche.

“Der Würger von Notting Hill” – Historisches

In “Der Würger von Notting Hill” berichtet Christian Heermann nicht nur über spektakuläre Londoner Kriminalfälle, er schildert auch die Entwicklung des Rechtswesens und der Polizeibehörden sowie die literarische “Begleitung” dieser Prozesse.

Um die Traditionen und die Arbeit von Scotland Yard zu erklären, setzt Heermann beim ersten britischen König Heinrich II. (1) ein und zeigt, wie in den nächsten 800 Jahren das Justizsystem von der herrschenden Klasse gern als machtvolles Instrument zu deren Nutzen und Frommen gehandhabt wurde.

Der Würger von Notting Hill

Noch in der viktorianischen Epoche behandelten Richter Angehörige der gehobenen Schicht in einem Prozess anders als die Armen aus den überfüllten Elendsvierteln der Millionenstadt London.

(Bild rechts: TheOtherKey/Pixabay)

Justizia war bei Angeklagten aus dem Adel oder gutsituierten Familien oftmals auf beiden Augen blind, wenn es um belastende Beweise ging. Beim einfachen Mann reichte ein Verdacht, auf entlastende Fakten wurde dann gar nicht mehr geschaut – trotz des seit 1679 geltenden ‘Habeas-Corpus-Amendment-Act’ (2) zum Schutz der Bürger gegen Justizwillkür.

Ähnlich “klassenbewusst” gingen die Ermittler vor – was nicht passte, wurde passend gemacht: Beweise verschwanden, Spuren wurden vernichtet. Zur korrupten Absicht gesellte sich Unwissenheit, für manch Unschuldigen jener Zeit eine Katastrophe.

Ja, bis aus den vom viktorianischen Volk und Verbrechern verlachten ‘Bow Street Runners’ die ‘Metropolitan Police of London’

Der Würger von Notting Hill

mit ihren verhassten ‘Bobbies’ oder ‘Peelern’ (Sir Robert Peel (3)) wurde, daraus dann Scotland Yard und der Yard irgendwann eine erfolgreiche Kriminalbehörde, war es ein langer Weg…

(Bild links: Alexander Lesnitzky/Pixabay)

Und es waren viele Reformen und wissenschaftliche Innovationen sowie literarische Schützenhilfe nötig. Die kam unter anderem von Charles Dickens im 19. Jahrhundert -> https://www.meineleselampe.de/viktorianisch-moerderische/ und von Edgar Wallace im 20. Jahrhundert.

Und auch Wilkie Collins (1824-1889) griff laut Christian Heermann zur Feder, um einen bestimmten Beamten der ‘Metroplitan Police’ zu verewigen. Schauen wir uns den Mordfall aus der viktorianischen Epoche an, der Collins inspiriert hat..

“Der Würger von Notting Hill” – Mörderisches

“Die Tragödie des Jonathan Whicher”

29. Juni 1860, frühmorgens: das Kindermädchen der Familie Kent will den vierjährigen Savile wecken, doch der Junge liegt nicht in seinem Bett. Wenig später entdecken die alarmierten Hausbewohner den Kleinen mit durchschnittener Kehle und einer Stichwunde am Herzen in der Abfallgrube des Anwesens.

So geschehen im Dörfchen Road in der Grafschaft Wiltshire. Samuel Kent, Regierungsinspektor, liebt die Abgeschiedenheit und hat sich hier mit seiner zweiten Ehefrau, den Töchtern Constance und Mary Anne (beide aus erster Ehe) sowie dem kleinen Savile niedergelassen.

Die Polizeibeamten in dieser Provinz sind nicht die hellsten Sterne am Firmament und so kommt es zu verhängnisvollen Fehlern gleich bei der Aufnahme der Ermittlungen. Ein blutiger Handabdruck an einem der Fenster im Road Hill House wird weggewischt, angeblich um der Familie den Anblick zu ersparen.

Ein Konstabler findet im Küchenofen ein blutiges Nachthemd. Der Sergeant ordnet an, dass Gewand dort zu belassen, da der Mörder es vermutlich holen werde. Zwei Konstabler werden postiert, um die Küche zu überwachen – vom Brandy-Rausch überwältigt schlafen sie tief und fest. Der Mörder kann unerkannt das Nachthemd an sich bringen.

Der Vorfall wird dezent totgeschwiegen und eine zu dem Tatzeitpunkt gar nicht anwesende “Zigeunerbande” (sorry, stammt nicht von mir – so abwertend wurden Sinti und Roma damals bezeichnet) der Bluttat bezichtigt.

Die örtlichen Ermittler wissen nicht weiter und fordern Hilfe aus London an. Jonathan Whicher, einer der besten Detektive der ‘Metropolitan Police’, wird nach Road geschickt und deckt schnell die Ermittlungspannen seiner Provinz-Kollegen auf.

Obwohl ihm viel Ablehnung entgegenschlägt, recherchiert Whicher unverdrossen weiter und hört sich aufmerksam um. So findet er heraus, dass das verschwundene blutige Nachthemd der sechzehnjährigen Constance Kent gehört, die gerade ihre Schulferien daheim im Road Hill House verbringt.

Whicher schickt seinen Assistenten Dolly Williamson in das Internat, das Constance besucht. Hier gilt sie als leicht erregbar. Sie soll einmal im Schulkeller einen Gashahn geöffnet haben, um das Gebäude in die Luft zu jagen – aus Rache wegen eines Tadels. Weil ihr Vater gesellschaftlich eine gehobene Stellung einnimmt, wurde nichts weiter gegen das Mädchen unternommen.

Schulkameradinnen berichten Williamson, dass Constance sich nach den Ferien bei ihnen über das harte und ungerechte Regiment ihrer Stiefmutter beklagt und ihrem kleinen verwöhnten Stiefbruder Savile, “dem Bastard”, die alleinige Schuld daran gegeben habe.

Whicher lässt Constance verhaften, vom Magistrat werden ihm nur noch sieben Tage Zeit eingeräumt, um weitere Beweise zu finden.

“Die überlieferte Anschauung, dass ein sechzehnjähriges Mädchen aus gutem Hause keine Mörderin sein konnte, war stärker als alle Verdachtsmomente. Und dass sich über diese traditionelle Meinung ausgerechnet zwei Vertreter der im ganzen Land verhassten Londoner Polizei hinweggesetzt hatten, ließ bei den Bewohnern von Road die Mordanklage noch unglaubwürdiger erscheinen.”

Seite 44/45 aus “Der Würger von Notting Hill” (1970), Große Londoner Kriminalfälle, Christian Heermann, 339 Seiten, 6. Auflage erschienen 1983 im Verlag Das Neue Berlin, Berlin (Ost).

Der Würger von Notting Hill

Es kommt wie es kommen musste: der Vertreter der Anklage macht bei der Verhandlung einen ängstlichen und verunsicherten Eindruck, die Zeuginnen kippen um oder verweigern plötzlich die Aussage, Constanze beteuert ihre Unschuld – und man lässt sie laufen.

(Bild rechts: Gordon Johnson/Pixabay)

Der glücklose Detective Jonathan Whicher wird entlassen – zu viel Druck kommt von der Presse, zu viel empörtes Aufbegehren vom Volke.

Vier Jahre später erscheint Constance Kent am Polizeigerichtshof in der Bow Street und legt ihr schriftliches Geständnis über den Mord an ihrem Stiefbruder vor. Zu spät für den ehemaligen Inspektor Jonathan Whicher, dem Bauernopfer der ‘Metropolitan Police’.

Und hier kommt Wilkie Collins ins Spiel mit seinem Roman: “Der Monddiamant” -> https://www.meineleselampe.de/der-monddiamant/.

Collins beschreibt den Diebstahl – keinen Kindsmord – eines wertvollen indischen Diamanten im Hause Verinder. Sein zunächst ermittelnder Beamter, ein Sergeant Cuff, entsandt aus London, ist wie der reale Jonathan Whicher eine Koryphäe auf seinem Gebiet und löst die schwierigsten Fälle.

Äußerlich ist Cuff nicht einnehmend, ältlich, dürr, mit Krallenfingern, die Haut wie ein welkes Herbstblatt, die grauen Augen stahlhart. Nach Wilkies Vorbild wird später Edgar Wallace seine Figur des Sergeant Elk anlegen.

Cuff sucht in “Der Monddiamant” ein mit Farbe – nicht mit Blut – beschmutztes Nachthemd, verdächtigt eine indische Gauklertruppe – keine Sinti oder Roma – und anschließend ein Hausmädchen, das daraufhin Selbstmord begeht. Cuff fällt in Ungnade bei der Herrin des Hauses, er wird entlassen, gilt jedoch weiterhin als ehrenhaft und klug – im Gegensatz zum unglücklichen Jonathan Whicher.

Der Monddiamant

Der Monddiamant – ein Objekt verbrecherischer Begierde….

(Bild links: von caro oe92/pixabay)

Christian Heermann stellt fest, dass Collins den gesellschaftlichen Argwohn gegen die ‘Metropolitan Police’/’Scotland Yard’ in seinem Roman nicht thematisiert, durch seine Cuff-Darstellung aber den literarischen Mythos der Londoner Kriminalpolizei begründet hat.

“Der Würger von Notting Hill” – Bemerkenswertes

  • Noch im 19. Jahrhundert war England das Land mit den härtesten Strafgesetzen (S. 24), für 232 Vergehen galt hier die Todesstrafe. Zum Vergleich zieht Christian Heermann Frankreich heran, wo nur sechs Vergehen mit der Todesstrafe geahndet wurden.
  • Bis 1817 waren öffentliche Auspeitschungen weiblicher Delinquentinnen gang und gäbe und besonders beim männlichen Publikum beliebt – da wären wir wieder bei dem Thema: puritanische Heuchelei, Doppelmoral der Viktorianer.
  • Öffentliche Hinrichtungen fanden auf dem Richtplatz von Tyburn bis 1867 statt, danach hinter den Gefängnismauern. Auch Charles Dickens besuchte Exekutionen (aus beruflichem Interesse, wie sein Schriftstellerkollege William Makepeace Thackeray übrigens auch), verurteilte jedoch deren Öffentlichkeit und die volksfestartige Stimmung, die dabei herrschte. 1849 beklagt er in einem Leserbrief an die “Times”, dass der Londoner Pöbel anlässlich der Hinrichtung des Ehepaares Frederick und Marie Manning die ganze Nacht hindurch unter dem Galgen gefeiert habe (4). Der Mordfall Manning kommt übrigens nicht in “Der Würger von Notting Hill” vor.
  • Die Hinrichtungspraxis des Schleifens, Enthauptens und Vierteilens wurde in England erst 1870 abgeschafft.

“Der Würger von Notting Hill” – mein Fazit

Klug und gut geschrieben, eine reiche Fundgrube für LeserInnen, die sich für die Kriminalgeschichte und spektakulären Mordfälle Englands interessieren. Als Zugabe liefert Heermann einige literarische Anregungen.

Heermann beginnt sein Buch mit “Die Kofferleiche von Charing Cross”, einem Mordfall aus dem Jahr 1927, taucht dann ins Mittelalter ein und verfolgt die Entwicklung und Arbeit der Ermittlungsbehörden von da an wieder bis ins 20. Jahrhundert. Er beendet seine Chronik mit den Korruptions- und Sex-Skandalen englischer Politiker. Bekannte mörderische Größen wie Jack the Ripper oder Dr. Crippen sind natürlich mit von der Partie ebenso wie viele Täter, die ich vorher gar nicht kannte.

Christian Heermann (1936-2017), studierter Physiker und Mathematiker, Doktor der Pädagogik und Fachmann für das Leben und Wirken Karl Mays (5), beweist zweifelsohne große Sachkenntnis der englischen Kriminalgeschichte. Doch mir scheint, er konnte sich nicht so recht festlegen,

Der Würger von Notting Hill

ob Scotland Yard nun eher eine Behörde der Korruption und Pannen war und nur mittels SchriftstellerInnen wie Wilkie Collins, Charles Dickens, Edgar Wallace, Dorothy Sayers zu seinem heutigen Ruhm gekommen ist oder ob der gute Ruf durch Leistungen untermauert wurde.

(Bild rechts: Mary_R_Smith/Pixabay)

“Scotland Yard ist ein Gefangener des eigenen Establishments. Sein Renommee ist seit der Gründung umstritten gewesen. Heute ist nichts mehr davon geblieben.”

Seite 339 aus “Der Würger von Notting Hill” (1970), Große Londoner Kriminalfälle, Christian Heermann, 339 Seiten, 6. Auflage erschienen 1983 im Verlag Das Neue Berlin, Berlin (Ost).

Hm?!?? Trotzdem: ein rundum lesenswertes Buch, ich kann es Euch nur empfehlen!!

“Der Würger von Notting Hill” – mein Lese-Exemplar

“Der Würger von Notting Hill” (1970), Große Londoner Kriminalfälle, Christian Heermann, 339 Seiten, 6. Auflage erschienen 1983 im Verlag Das Neue Berlin, Berlin (Ost).

“Der Würger von Notting Hill” – Quellen und Weblinks

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"Der Würger von Notting Hill"/ Meine Leselampe-Vorschau 22/KW 04