“Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” (1972?)

von | 13.01.2021 | Buchvorstellung

“Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” lautet der Titel des Nachwortes zu “Onkel Silas”. Der Roman von Joseph Sheridan LeFanu aus dem Jahr 1864 gilt als eines der bedeutendsten Werke des viktorianischen Autors. Diesen Sensations- oder Kriminalroman werde ich in dieser Woche vorstellen. Doch zuvor geht es um das Nachwort.

Warum um alles in der Welt stellt sie ein Nachwort vor, fragen sich jetzt manche von Euch. Nun, weil mir Norbert Millers Nachwort zu Joseph Sheridan LeFanus Roman “Onkel Silas” sehr gefallen hat und es wirklich zum Verständnis des Autors und seines Werks beiträgt.

Manche Nachworte sind so gut aufgebaut und informativ, dass es schade ist, sie bei einer Buchvorstellung unter den Tisch fallen zu lassen.

“Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” – Einleitung

Norbert Miller, emeritierter Professor und einer der bedeutendsten Literatur- und Kunstwissenschaftler unserer Zeit bringt in seinem Nachwort “Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” (UT: Sheridan LeFanu und der viktorianische Kriminalroman) viele Fakten zu LeFanus Leben und dessen Entwicklung als Schriftsteller, schildert die Befindlichkeit der Viktorianer, bespricht den Inhalt von “Onkel Silas” und beantwortet mir als Leserin die Frage, die Joseph Sheridan LeFanus Vorwort in mir aufkommen ließ.

Darin verteidigt LeFanu nämlich vehement das Genre des Sensationsromans und ich hatte überlegt, ob diese Romane zu viktorianischen Zeiten denn einen so schlechten Ruf hatten.

Sensationsromane

In den 60er- und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts erfreuten sich Sensationsromane eigentlich wachsender Beliebtheit, die Leser genossen es, über Verbrechen aller Art, Ehebruch oder die unheimlichen Taten Wahnsinniger zu lesen, platziert in einem ihnen vertrauten Umfeld.

(Bild rechts: Narcisse Navarre/Pixabay)

Am Publikum lag es also nicht, nein, es waren die Literaturkritiker, die in ihren Artikeln die Gattung des Sensationsromans verrissen. Einer von ihnen, der Philosoph und Geistliche Henry Longueville Mansell (1820-1871), bezeichnete Sensationsromane gar als übelkeitserregend (genauen Wortlaut siehe bei -> https://de.qaz.wiki/wiki/Sensation_novel).

Auf solche Kritiker hat sich wohl Joseph Sheridan LeFanu in seinem Vorwort zu “Onkel Silas” bezogen.

Und Nobert Miller gibt Sheridan LeFanu Recht – auch er hält ihn nicht für einen Sensationsschriftsteller und begründet das literaturwissenschaftlich in seinem Nachwort “Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit”.

“Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” – die Realität

Die dunklen Schauerromane jener Zeit spiegeln die dunkle Wirklichkeit des viktorianischen Zeitalters wider, das nur oberflächlich oder von außen betrachtet als eine ruhige und geordnete Zeit erschien. Großbritannien entwickelte sich zur führenden Welt- und Handelsmacht mit allen Vor- aber auch allen Nachteilen.

Prof. em. Dr. phil. Norbert Miller bezeichnet in seinem Nachwort “Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” folgende vier Schauerromane als die Klassiker des englischen 19. Jahrhunderts:

1860 Wilkie Collins “The Woman in White” (“Die Frau in Weiß”), 1864 Joseph Sheridan LeFanu “Uncle Silas – A Tale of Bartram-Haugh” (“Onkel Silas” oder “Das verhängnisvolle Erbe”), 1868 Wilkie Collins “The Moonstone” (“Der Monddiamant”) und 1870 Charles Dickens nicht vollendeter Roman “The Mystery of Edwin Drood” (“Das Geheimnis des Edwin Drood”).

Dieses Jahrzehnt, in dem die vier Romane erschienen, war – wie überhaupt die viktorianische Epoche – ereignisreich: durch den rasanten technischen und wissenschaftlichen Fortschritt kam es zu außen- und innenpolitischen Veränderungen und einem kompletten gesellschaftlichen Umbruch.

Die Bevölkerung wuchs, immer mehr Menschen zogen vom Land in die Städte, um dort Arbeit zu finden. Wem das nicht gelang, verhungerte in den Elendsvierteln der großen Industriestädte oder starb an den grassierenden Seuchen Typhus und Cholera. Der Adel verlor seine politische Vormachtstellung zusehends an die reichen Fabrikanten und Händler. Das sind nur einige der Probleme, mit denen die Viktorianer zu kämpfen hatten. Hinter der Fassade des erfolgreichen Empires und gutbürgerlicher Behaglichkeit gärte es. (Info am Rande)

Der dunkle Spiegel der Wirklichkeit

Die Menschen verloren ihr vertrautes Umfeld, damit die Orientierung und ihren inneren Halt – viele Literaturwissenschaftler wie Norbert Miller sprechen sogar von einem Identitätsverlust.

(Bild links: Gordon Johnson/Pixabay)

Onkel Silas-Nachwort

Die Viktorianer hatten laut Miller keinen Zugriff mehr auf die Wirklichkeit, der Fortschritt entwickelte eine für sie bedrohliche Dynamik.

(Bild rechts: Steve Brandon/Pixabay)

“Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” – die Fiktion

Das Gefühl der Bedrohung durch die Realität schlug sich zusehends in der Literatur nieder: der in den “gothic novels” des 18. Jahrhunderts und im schwarzen Roman der Romantik (Norbert Miller) gepflegte übernatürliche Spuk, bedrohliche Phänomene aus einer anderen Dimension, Werke des Teufels und anderer Dämonen reichten ab 1860 als Nervenkitzel nicht mehr aus.

In den Romanen und Erzählungen rückte die Bedrohung des Menschen durch den Menschen in den Vordergrund – Fazit der viktorianischen Schriftsteller und ihres Publikums: nur die menschliche Vernunft kann die Verbrechen aufdecken, ihnen beikommen und so die Angst vor der veränderten Wirklichkeit bezwingen.

“Bis zum heutigen Tag, […] – beherrscht ja das viktorianische Milieu die Gruselszene, bezieht der Schauerroman aus ihm seine Atmosphäre.”

Seite 544, Norbert Miller, “Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit”, Nachwort zu Joseph Sheridan LeFanu: “Onkel Silas” (1864), in “Bibliotheca Dracula”, 1980 Zweitausendeins, s.u.

Norbert Miller schreibt, dass Collins, Sheridan LeFanu und Dickens sich in den von ihm genannten Klassikern der gleichen bedrohlichen oder unheimlichen Atmosphäre bedienen, wie wir sie aus der “gothic novel” oder dem französischen “roman noir” kennen, die Ursache für die Bedrohung jedoch rein vom Menschen ausgeht.

Alle drei Autoren bilden das wirkliche Leben in ihren Romanen ebenso ab wie es Thackeray, Trollope oder George Elliot in in ihren Gesellschaftsromanen tun – mit einem Unterschied:

“Sie gehen auf breitgefächerte Repräsentation des Wirklichen aus, […] , nur dass sie – über den Gesellschaftsroman hinausgreifend – auch die untergründigen und dunklen Aspekte, das neu erwachte Misstrauen in die Realität mit in ihre künstliche Rechnung einbezogen.”

Seite 548, Norbert Miller, “Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit”, Nachwort zu Joseph Sheridan LeFanu: “Onkel Silas” (1864), in “Bibliotheca Dracula”, 1980 Zweitausendeins, s.u.

Daher wehrt sich auch Joseph Sheridan Le Fanu in seinem Vorwort zu “Onkel Silas” gegen den Vorwurf, ein Sensationsschriftsteller zu sein – bildet er doch die Gegenwart in seinem Roman ab und erzeugt Spannung nicht aus bloßer Effekthascherei. Aber so ganz auf das Übernatürliche verzichtet Sheridan dann auch nicht.

“Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” – Onkel Silas

Klar, in “Onkel Silas” geht es um das Verbrechen eines Menschen, die kriminalistische Auflösung böser Absichten und versteckter Intrigen und ein “Locked Room Mystery”.

Doch bis zum letzten Kapitel flicht Sheridan Le Fanu Elemente des Aberglaubens und (eingebildeter) übersinnlicher Wahrnehmungen in seinen Kriminalfall ein. Das Normale erhält bei LeFanu stets eine bedrohliche Doppeldeutigkeit.

Der dunkle Spiegel der Wirklichkeit

Norbert Miller stellt fest, dass Sheridan LeFanu ein Misstrauen gegen das rational zu Erklärende hegt. Einen Hinweis sieht er darin, dass einige (Neben-) Akteure dieses Krimis parallel als “arglistig ins viktorianische Kostüm versteckte Unsterbliche und Widergänger” (Seite 563) fungieren.

(Bild links: Peter H. /Pixabay)

Wen wundert es, schrieb Joseph Sheridan LeFanu doch neben seinen Romanen weiterhin auch Gespenstergeschichten, ich denke an seine Erzählung über eine weibliche Vampirin, “Carmilla” -> siehe Meine Leselampe: https://www.meineleselampe.de/carmilla-le-fanu-1872/.

Und er lebte seit dem Tod seiner Frau 1858 ebenso einsiedlerisch und den spirituellen Ideen des Geistersehers Swedenborgs anhängend wie der Vater Maud Ruthyns in “Onkel Silas”.

Laut Norbert Miller baute LeFanu in jenen Jahren “aus seinen Traumbildern und Ängsten das düstere System einer doppelbödigen, vom Grauen durchzogenen Wirklichkeit auf” (Seite 553), das sein gesamtes Werk prägen sollte. Diese Elemente finden sich in den Romanen von Dickens und Collins nicht.

Leider sind Joseph Sheridan LeFanu und seine Romane und Erzählungen ein wenig in Vergessenheit geraten – zu Unrecht.

Ein Lese-Tipp vom Literaturwissenschaftler: Le Fanus “The House by the Churchyard” (“Das Haus beim Kirchhof”) von 1861, “Wylders Hand” (Wylders Hand”) von 1863 sowie “Uncle Silas” und “Carmilla” (1872) schätzt Norbert Miller als bis heute herausragende Werke ein.

So, jetzt ist Schluss, mehr über das Nachwort “Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” schreibe ich nicht, sonst brauche ich “Onkel Silas” am Freitag gar nicht mehr vorstellen. Norbert Miller hat den Plot hervorragend analysiert, doch damit würde ich von der Handlung zu viel vorwegnehmen.

“Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” – mein Lese-Exemplar

Band 3 aus der Reihe “Bibliotheca Dracula”, daraus das Nachwort von Norbert Miller “Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit – Sheridan LeFanu und der viktorianische Kriminalroman” (zum Roman “Onkel Silas”), 21 Seiten, Lizenzausgabe des Carl Hanser Verlags München (1972), Herausgeber Zweitausendeins 1980.

“Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit” – Quellen und Weblinks

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Ein dunkler Spiegel der Wirklichkeit