“How To Be A Victorian” – zu deutsch: “Wie man ein Viktorianer ist”. Das klingt etwas plump, besser finde ich: “Wie man als Viktorianer lebt(e)” oder “Wie es sich in der viktorianischen Zeit lebte” oder “Wie es war, ein Viktorianer zu sein”.

Einen kleinen Vorgeschmack auf das gleichnamige Buch von Ruth Goodman und das Sein als ViktorianerIn gab es bereits am Montag auf Meine Leselampe -> https://www.meineleselampe.de/and-victorian-meine-leselampe-vorschau-22-kw-20/

“How To Be A Victorian” – Einleitung

Wie wir den Buchtitel “How To Be A Victorian” nun auch übersetzen, es geht um den Alltag in der viktorianischen Ära und wie die Menschen ihn bewältigten –

"How To Be A Victorian"

bewältigten im wahrsten Sinne des Wortes, denn so einfach wie heute war es nicht, es gab deutlich weniger Hilfsmittel…

(Bild rechts: Dont Sell My Artworks As Is/Pixabay)

Die britische Historikerin Ruth Goodman (* 1964, [1]) hat dem Leben im 19. Jahrhundert nachgespürt, als Anhängerin des “Reenactments” (Nachstellung historischer Ereignisse oder Abläufe) manches selbst ausprobiert, z.B. wie die Haare mittels Kamm und Bürste gereinigt und gepflegt wurden, da es zu Beginn des viktorianischen Zeitalters noch für sehr gesundheitsabträglich gehalten wurde, sie zu waschen.

Und so können wir dank Ruth Goodman die Viktorianer durch ihren Tag begleiten: Aufstehen, Toilette machen, Toilette aufsuchen und anschließend frühstücken. Wir sehen ihnen bei der Arbeit zu und den Kindern beim Schulbesuch oder ihrer harten Arbeit unter Tage,

"How To Be A Victorian"

spielen Cricket, Fußball, boxen oder besuchen Pferderennen.

(Bild links: Prawny/Pixabay)

Und machen abends auch vor der Schlafzimmertür nicht halt – shocking!

“How To Be A Victorian” – zum Inhalt

Spannend sind für mich als Frau natürlich Fragen der Mode: wann trug man welche Krinolinen oder sonstige “Unterbauten”, wie variierten die Höhe des Zylinders oder die Weite der Beinkleider im Laufe des 19. Jahrhunderts? Oder: wieviel Freizeit hatte die arbeitende Bevölkerung und wie verbrachte sie sie?

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Korsetts – eine leidige Quälerei, um eine schlanke Taille zu bekommen. Die Rippen wurden deformiert, das wirkte sich auch auf die inneren Organe aus, denen immer weniger Platz blieb. Im Mädchenalter wurden die Korsetts angelegt und allmählich immer enger geschnürt, bis die Traum-Maße erreicht waren.

(Bild rechts: Oberholster Venita/Pixabay)

Eine Frage, die mich brennend interessiert hat, war die nach dem (nicht immer) “stillen Örtchen”, dem “privy” – Vorgänger des “water closet” (WC) in Form des “earth closet” (Plumpsklo), auch “outhouse” genannt.

"How To Be A Victorian"

Das Plumpsklo war ein zeltartiges Häuschen mit schrägem Dach und Holzwänden und lag am hinteren Ende des Gartens. Zwischen der Tür und dem Dach sowie dem Boden war jeweils eine Lücke, so dass genügend Frischluft zugeführt wurde (in unseren Landen diente dazu das Herz in der Tür, denke ich).

(Bild links: photosforyou/Pixabay)

Platz nahm man auf einem hölzernen Brett (unser sogenannter “Donnerbalken”), das im Winter mehr wärmte als es ein heutiger Kunststoffsitz tun könnte. Zum Abwischen gab es zugeschnittenes Zeitungs- oder diverses Altpapier. Die Ausscheidungen wurden in einem Behältnis aufgefangen und in einer entlegenen Gartenecke kompostiert.

Der Innenraum und der Toilettensitz wurden täglich geschrubbt, frische Blumen in einer Vase sorgten zudem für Wohlgeruch.

Das funktionierte problemlos, sofern man ein großes Grundstück sein Eigen nannte oder auf dem Land lebte. In den überfüllten Städten und besonders in den Elendsvierteln, wo oft Dutzende Menschen gemeinsam ein “privy” benutzen mussten, waren die Verhältnisse schauderhaft. Die Jauchegruben quollen über, verpesteten die Luft , verseuchten das Grundwasser und die Themse. Wer es sich leisten konnte (und wollte!), stellte “Jakesmen” an, die nachts die privies und Jauchegruben leerten und die Fäkalien auf den Feldern verteilten. Mancherorts war das sogar gesetzlich vorgeschrieben. Doch wie heute auch hielten die Menschen sich nicht immer an solche Regelungen.

Ab 1851 mussten in Neubauten Wasserklosetts installiert werden, das blieb jedoch für lange Zeit ein Privileg der wohlhabenden Schichten. Zudem trugen die Wasserklosetts auf ihre Weise zu den sich häufenden Typhusepidemien und zum “Great Stink” von 1858 [2] bei: die Abwassermenge stieg durch die WCs an, die Sickergruben liefen über, das Schmutzwasser floss in die Kanalisation und von dort in die Themse.

Genug der unappetitlichen Fakten, werfen wir einen Blick auf die viktorianische Körper-Hygiene. Ruth Goodman hat damalige “Wasch-Ersatzmaßnahmen”, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts gang und gäbe waren, ausprobiert. Wasser galt als gefährlich, es stand in Verdacht, die Poren zu öffnen, durch die dann Krankheiten eindringen konnten. Ein Bad wurde nur aus medizinischen Gründen genommen.

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Bis zu einem solchen Badezimmer und seiner regelmäßigen Benutzung war es ein langer Weg.

(Bild rechts: Gordon Johnson/Pixabay)

Statt sich zu waschen, wechselten die gutsituierten ViktorianerInnen mehrmals täglich die Unterwäsche, die ja leichter zu reinigen war als die aufwändigen Garderoben. Den Körper rieben sie mit Leinentüchern ab und entfernten Schmutz und Schweiß – mit Erfolg. Vier Monate lang hat Ruth Goodman sich nicht gewaschen, sondern nur abgerieben und niemand hat etwas gemerkt oder gerochen!!!

Wie die Körper wurden auch Haare damals selten bis gar nicht gewaschen, sondern gründlich und ausdauernd gebürstet und gekämmt. Laut Goodman ist das eine probate Reinigungs- und Pflegemethode, die noch dazu die Haarstruktur verbessert. Allerdings müsse man Bürsten von guter Qualität und aus Naturmaterialien benutzen und diese täglich reinigen!!!

Männer benutzten gern Macasser-Öl [3] zur Haarpflege und diverse Mischungen gegen Haarausfall, die damals so wenig wie heute geholfen haben. Der Bartwuchs nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts beständig zu: startete der gepflegte Viktorianer noch als glattrasierter Dandy wie in der Regency-Zeit, ließ er sich allmählich lange Koteletten stehen (Prinz Albert),

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die später als “Rim-Beard” die Kinnlinie umrandeten (das machte international Mode, auch in Amerika, siehe rechts Abraham Lincoln).

Manchmal wurde der “Rim-Beard” mit einem Schnauzbart kombiniert, gegen Ende der Ära wurden aus diesem Ensemble buschige Bärte.

(Bild links: Gordon Johnson/Pixabay)

Maniküre wurde ähnlich wie heute betrieben: mit Nagelscheren, Feilen und einem Leder-Buffer zum Polieren. Die Fingerspitzen wurden vorher in warmem Wasser gebadet, die Nägel danach mit Zitrone eingerieben, um sie zu bleichen, anschließend nochmals gebadet, abgetrocknet und in ovale Form geschnitten (nicht zu lang, es sollte sich kein Schmutz darunter ablagern können), glatt gefeilt und ausdauernd poliert. Manche Damen rieben die Nägel mit etwas Handcreme ein, viele fuhren mit den Nägeln statt dessen über ihre Kopfhaut, deren natürliches Fett sie für nutzbringender hielten – hm…

Ach, es gäbe so viel Spannendes mehr aus “How To Be A Victorian” zu erzählen: über die Schulbildung, die tägliche Arbeit, das Essen, den Sport, den Sex. Doch ich möchte nicht die ViktorianerInnen vergessen, die nur die Schattenseiten des Lebens kannten.

"How To Be A Victorian"

Ruth Goodman beschreibt nicht nur das Leben der Reichen und Schönen, sie verliert die desaströse soziale Schieflage in der viktorianischen Epoche niemals aus dem Blick.

(Bild rechts: Gordon Johnson/Pixabay)

Sie schildert die Ausbeutung der ArbeiterInnen, die Situation in den Arbeitshäusern, die Verelendung und Verzweiflung breiter Massen, deren nie endenden Hunger, ihre durch Mangelernährung deformierten Körper:

“The search has also taken me down harrowing avenues of hunger, disease, overwork and abuse. The Victorian Era was a catastrophic time to be poor. (…) Life expectancy slowly rose throughout the era (…), but the chances of long-term malnutrition and of body-deforming dietary deficiencies in Victorian Britain were as bad as we have ever known.”

Goodman, Ruth, “How To Be A Victorian”, London, 2014, Seite 440.

Oh, das Leben in der Viktorianischen Ära war katastrophal für die Armen. Über Freizeitgestaltung, Frisuren, Mode oder Nagelpflege brauchten sie sich erst gar keine Gedanken zu machen. So musste das Dienstmädchen Hannah Cullwick in aller Herrgottsfrühe aufstehen, zwei Stunden Hausarbeit verrichten, anschließend das Frühstück für ihre Herrschaft zubereiten und servieren, bevor sie selbst etwas essen konnte. Oder nehmt den sechsjährigen William Arnold, der bei bitterer Kälte im Januar von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Feldern die Krähen verscheuchen musste – ohne Essen!

Und nun ist es genug, wo bliebe sonst der Anreiz für Euch, das Buch selbst zu lesen? Es gibt bisher keine deutsche Übersetzung, aber ich finde “How To Be A Victorian” anschaulich und gut verständlich geschrieben, viele Bilder und Skizzen aus der viktorianischen Epoche runden den Inhalt perfekt ab.

Mein Fazit: ein wunderbares Buch, geschrieben mit Herzblut von einer Historikerin, die nicht nur genauestens recherchiert, sondern vieles ausprobiert hat und die heiteren wie die grausamen Aspekte viktorianischen Seins vermittelt. Unbedingt lesenswert!!!

“How To Be A Victorian” – mein Lese-und Zitier-Exemplar

Ruth Goodman, “How To Be A Victorian”, 458 Seiten (mit Vor- und Nachwort, Quellenangaben und Register), erschienen 2014 bei Penguin Books, London.

“How To Be A Victorian” – Quellen und Weblinks

[1] Darf ich vorstellen: Ruth Goodman -> https://en.wikipedia.org/wiki/Ruth_Goodman_(historian)

[2] “The Great Stink” -> https://en.wikipedia.org/wiki/Great_Stink und https://www.historic-uk.com/HistoryUK/HistoryofBritain/Londons-Great-Stink/

[3] Was ist Macasser-Öl? -> https://de.wikipedia.org/wiki/Makassar%C3%B6l

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How To Be A Victorian