oder: «Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading».

Vom irischen Dichter, Schriftsteller, Journalisten und Kritiker Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde (1854-1900).

Einleitung

«In Reading gaol by Reading town there is a pit of shame,…» so beginnt der sechste und letzte Vers von Oscar Wildes «The Ballad of Reading Gaol» [1], deutsch «Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading» (1898).

«Gaol» ist das frühere, nun veraltete Wort für Gefängnis, bedeutet also dasselbe wie das «jail» des modernen Englisch.

(Bild rechts: clker-free-vector-images/Pixabay)

In Reading ist ein Schandengrab

Gewidmet ist die 109 Strophen umfassende Ballade einem Mann, der seine Ehefrau aus Eifersucht ermordete und nun auf den Tod wartet:

In Memoriam C.T.W., weiland Kavallerist der kgl. Reitergarde…

«Er trug nicht mehr den roten Rock,

Denn Blut und Wein sind rot

Und blut- und weinrot seine Hand,

Da man ihn bei der Toten fand; (…) »

Seite 195, Oscar Wilde, «Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading», in: «De profundis sowie Die Ballade zum Zuchthaus von Reading», 224 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Hedda Soellner, Otto Hauser sowie Markus Jakob, erschienen 1987 Diogenes Verlag AG Zürich. Alle folgenden Zitate stammen aus dieser Ausgabe.

Inhalt

Wie der am 7. Juli 1896 gehängte Mörder Charles Thomas Woolridge saß auch Oscar Wilde im Zuchthaus Reading ein. Hier verbrachte er den größten Teil seiner zweijährigen Haftstrafe [2], zu der er wegen seiner Homosexualität verurteilt worden war.

Ergreifend beschreibt Wilde die qualvollen Wochen, in denen Woolridge auf die Vollstreckung des Urteiles wartet und die anderen Gefangenen – erfüllt von innerem Grauen – mit ihm. Niemand von ihnen durfte mit dem Delinquenten sprechen, der diese seelische Folter standhaft und gezwungenermaßen still ertrug:

«Nur sah ich keinen, der in den Tag

So sehnlich sah wie er.

So sehnlich sah zu dem Fleckchen Blau,

Dem kleinen blauen Feld,

Das der Gefangene Himmel nennt,

Den Himmel seiner Welt.»

Seite 195

«Sie hängten ihn wie ein wildes Tier (…) Sie zogen ihn aus und scharrten ihn ein, (…)»: entsetzt sieht Wilde den Tanz am Galgen. Entsetzlich ist ihm das Verscharren der Leiche, entsetzlich das Leichentuch aus gelöschtem Kalk, entsetzlich das Schandengrab…

Wilde litt fürchterlich in Reading und prangerte die Methoden des Strafvollzugs und der Zwangsarbeit an:

«Und geschorener Kopf und Blei am Fuß

Geben lustigen Mummenschanz.

Wir rissen an teerigen Tauen uns

Die Nägel wund und krank.»

Seite 203

Die Gefangenen von Reading erlebten nur Mitleidlosigkeit und Härte. Ob Richter, Wärter oder der Henker – ein jeder vollzog seinen Job und damit die Urteile emotionslos wie eine Maschine.

Viktorianische Zeilenreise 22/KW 09...goes Wilde!

Die Männer wurden zu harter Arbeit gezwungen oder verbrachten 23 Stunden allein in ihrer Zelle, in die kaum Tageslicht drang.

(Bild links: patrick489/Pixabay)

Sie mussten ihre eigene Notdurft entsorgen, wurden schlecht und unzureichend ernährt. Wilde bezeichnet das Wasser als «schlammig, brackig und schal», das Brot als «sauer, vergipst und schmal».

In Reading setzte man auf Isolation als drakonische Erziehungsmaßnahme [3], die Gefangenen durften nicht miteinander sprechen oder sich ansehen. Geringe Vergehen wie ein freundlich geflüstertes Wort zu einem Leidensgenossen wurden mit Dunkelhaft bestraft.

Derlei Grausamkeiten, klagt Wilde, hätten noch keinen Menschen zu einem besseren gemacht:

«Das Gemeinste schießt in Kerkerluft

Wie giftiges Kraut empor,

Und stets nur das Gute im Menschen war’s,

Das hier welkte und erfror. »

Seite 217

Oscar Wilde (1854-1900) in seinen glänzenden Zeiten als gefeierter Bühnenautor und Dichter, als eleganter Dandy, als gesellschaftliches Enfant-Terrible… Diesen Oscar Wilde gab es nach Reading nicht mehr.

(Bild rechts von: Napoleon Sarony [1821-1896], auf WikiImages)

Wilde, Oscar

Der Dichter war gebrochen – an Seele, Herz und Leib, empfand sich jedoch auch als gereift und geläutert durch die Pein, die er erlitten hatte.

«Wohl ihm, dessen Herz da brechen kann

Und Frieden gewinnt und Verzeihn!

Wie sonst wird gleich des Menschen Pfad

Und die Seele von Sünden rein?»

Seite 219

In Reading liegt ein Schandengrab

Ein halbes Jahr nach seiner Haftentlassung, im Juli 1897, verfasste Wilde «Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading», die zunächst nicht unter seinem Namen, sondern unter der Nummer seiner Zelle veröffentlicht wurde: C.3.3. .

(Bild links: gatterwe/Pixabay)

«De profundis», der Brief, den Wilde in Reading an seinen früheren Liebhaber schrieb und in dem er über die Beziehung, aber auch über seine frühere Lebensführung und -einstellung reflektierte, erschien erst 1905, vier Jahre nach Wildes Tod – zuerst in Deutschland, dann in England.

Wilde, ein Ausgestoßener, kehrte England den Rücken und verbrachte seine letzten Jahre in Paris, wo er 1900 starb und beigesetzt wurde.

Mein Fazit

Ich habe viel zitiert, um die Urgewalt der Worte Wildes wenigstens ansatzweise vermitteln zu können. «Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading» ist ergreifend und erschütternd. Sie erinnert mich an ein Heldenepos – allerdings ein Epos über die Antihelden der viktorianischen Gesellschaft.

Viele von Wildes Mitgefangenen waren den Haft-Torturen ausgesetzt, nur weil sie aus Armut einen Mantel oder ein Stück Brot gestohlen oder wie Wilde ein homosexuelles Verhältnis hatten.

Was in der viktorianischen Zeit übrigens keine Seltenheit war: Politiker, Adelige, viele Männer pflegten homoerotische Beziehungen, die Gesellschaft drückte in diesen Fällen meist beide Augen zu. Doch Wilde hatte als Schriftsteller wohl allzu oft den Finger auf die moralischen Schwachstellen der Gesellschaft gelegt. Hat er damit einen Grund geliefert, ihn unter einem anderen Vorwand loszuwerden?

Auch das Schicksal des Mörders Charles Thomas Woolridge, das die ganze Dichtung durchzieht und gleichermaßen umrahmt, lässt mich nicht los. Die seelische Folter, die er bis zur Vollstreckung erdulden musste, die entmenschten Abläufe seiner Hinrichtung – Wilde hat mich in das Grauen der hilf- und machtlosen Beobachter hineingezogen.

Die Ballade über das Zuchthaus in Reading ist ein Denkmal für die Opfer einer brutalen Justizmaschinerie, ist eine Klage über persönliches Leid, ist eine Reflexion über Läuterung, ist reichlich Stoff zum Mitfühlen und Nachdenken – danke, Oscar Wilde!

Ich empfehle Euch, auch «De profundis» zu lesen, denn einige der Emotionen und Erlebnisse, die Wilde in seinem Brief schildert, finden sich in der Zuchthaus-Ballade wieder! Und Ihr lernt die leidvolle Beziehungsgeschichte zwischen Douglas und Wilde genauer kennen…

«Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading»

Bemerkenswertes

  • 1844 errichtet, blieb das Gefängnis in Reading im County Berkshire (mit zeitweiligen Unterbrechungen) bis 2013 als Strafvollzugsanstalt in Betrieb. Die letzte Hinrichtung dort fand 1913 statt [3].
  • Wilde verbrachte zwar den größten Teil seiner Haftstrafe in Reading, anfangs war er jedoch in Pentonville sowie in Wandsworth, beides Anstalten in London, inhaftiert. [2]
  • Einige wenige mitfühlende Seelen unter den Mithäftlingen fand Oscar Wilde in Reading doch. Sogar einer der Wärter zeigte sich menschlich und brachte ihm Zeitungen und Kekse in die Zelle. Später wurden Wilde auch Papier und Stifte erlaubt, so konnte er sein «De profundis« schreiben – einen 50.000 Worte umfassenden Brief an seinen früheren Liebhaber «Bosie» (Lord Alfred Douglas) [3].
  • Dieser Freund, Lord Alfred Douglas, ein Egomane reinsten Wassers, hatte Wilde vier Jahre lang finanziell ausgenutzt und emotional gequält. Douglas hatte durch sein Verhalten und Handeln entscheidend dazu beigetragen, dass sein Vater, der Marquess von Queensberry, Wilde vor Gericht und nach Reading bringen konnte [4].

Mein Lese-Exemplar

Oscar Wilde, «Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading», in: «De profundis sowie Die Ballade zum Zuchthaus von Reading», mit einem Essay von Jorge Luis Borges, 224 Seiten, aus dem Englischen übersetzt von Hedda Soellner («De profundis») und Otto Hauser («Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading») sowie Markus Jakob («Über ein Gedicht von Oscar Wilde» von Jose Luis Borges), erschienen 1987 Diogenes Verlag AG Zürich.

Eines der bekanntesten Zitate der Ballade findet Ihr bereits auf Meine Leselampe unter -> https://www.meineleselampe.de/viktorianische-zeilenreise-kw-09-goes-wilde/

Mein Buch-Tipp

«Oscar Wilde: Märchen, Erzählungen, Gedichte, Theaterstücke, Essays», 3 gebundene Bände im Schuber, ca. 2300 Seiten (Verlagsangabe), herausgegeben 2013 vom Nikol Verlag, Hamburg.

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Oder die englische Gesamtausgabe mit einem Vorwort von Oscar Wildes Enkel Merlin Holland mit dem Titel: «Complete Works of Oscar Wilde», Taschenbuch, 1216 Seiten, erschienen 2003 bei Harper Collins Publ. UK.

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Quellen und Weblinks

[1] englischer Originaltext aus «The Complete Works of Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde», Stories, Plays, Poems, Essays, introduced by Vyvyan Holland (Wildes zweiter Sohn, 1886-1967), 1216 pages, published 1986 by Book Club Associates London.

[2] über die Gefängnisse, in denen Wilde anfangs war: HM Prison Pentonville -> https://de.wikipedia.org/wiki/Pentonville-Gef%C3%A4ngnis und Wandsworth -> https://www.londonremembers.com/memorials/oscar-wilde-clapham-junction

[3] über die Historie des Zuchthauses Reading-> https://www.readingmuseum.org.uk/blog/very-short-history-reading-gaol

[4] über Douglas und Queensberry -> https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Douglas

Erstmals veröffentlicht am 4. März 2022, anlässlich des Geburtsdatums am 16. Oktober erneut gepostet.

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In Reading ist ein Schandengrab