»Harte Zeiten« – eine Einführung

»Harte Zeiten« oder auch »Schwere Zeiten« (OT: »Hard Times«) ist der neunte und kürzeste Roman von Charles Dickens, dem großen viktorianischen Erzähler (1812-1870).

Harte Zeiten

Drei Bücher: »Die Saat«, »Die Reife« und »Die Ernte« mit insgesamt 37 Kapiteln bringt Dickens auf den gerade mal 223 Seiten von »Harte Zeiten« unter.

Von April bis August 1854 veröffentlichte Dickens seine industrial novel in seiner eigenen Zeitschrift »Household Words« (um diese ein bisschen zu pushen und auch ärmeren Lesern zugänglich zu machen), bald darauf erschien der Roman als gebundenes Buch -> https://www.meineleselampe.de/meine-leselampe-kw-30-vorschau/.

»Harte Zeiten« – politisch-ökonomische Aspekte

In »Harte Zeiten« von 1854 prangert Dickens zwar auch die sozialen Missstände und die individuelle Entfremdung durch die Industrielle Revolution an, vor allem aber das Gedankengut, das für diese Schieflage seiner Meinung nach mitverantwortlich war:

  • den Utilitarismus (1 unter Quellen und Weblinks),
  • die Sozialökonomie des Adam Smith (1723-1790) (2 unter Quellen und Weblinks)

Ein bisschen habe ich mich gewundert, denn was hat Gradgrinds Verbannung der Phantasie mit Utilitarismus oder Smith’s Sozialökonomie zu tun? Beide Richtungen zielten nicht auf die Verelendung der Massen oder Entfremdung des Einzelnen.

Eine Erklärung fand ich beim Literaturwissenschaftler Hans-Dieter Gelfert in dessen Dickens-Biographie – ich zitiere:

»Vielleicht wäre seine (Dickens) Kritik differenzierter ausgefallen, wenn der große Liberale John Stuart Mill, (…) seinen programmatischen Aufsatz »Utilitarism« von 1861 schon acht Jahre früher publiziert hätte, so dass Dickens ihn vor Beginn der Arbeit am Roman hätte lesen können. Dort hätte er vieles gefunden, was sich mit seinen eigenen Vorstellungen deckte und was nichts mit Gradgrinds Philosophie gemein hatte.«

Seite 208 in Hans-Dieter Gelfert, “Charles Dickens der Unnachahmliche”, Biographie, 369 Seiten, 70 Abbildungen, erschienen 2011, Verlag C.H. Beck, München.

Auch die Theorie über das Bevölkerungswachstum von Thomas Robert Malthus (3 unter Quellen und Weblinks) muss Dickens im Hinterkopf gehabt haben, als er »Harte Zeiten« schrieb. Der Pfarrer, Ökonom und Demograf Robert Thomas Malthus (1766-1834) vertrat die Ansicht, dass die Ernährung der Menschheit auf Dauer nicht gewährleistet sei, da die Bevölkerung sich schneller als das Nahrungsangebot vermehre. Als Korrektive sah Malthus Hungersnöte, Naturkatastrophen, Keuschheit sowie weniger Unterstützung der Armen.

Gut, das reicht dann jetzt auch zu diesem Thema, ich wollte nur verdeutlichen, wie viele inhaltliche Aspekte und Fragen in diesem kleinen Band von Dickens stecken. Und warum er zwei Gradgrind-Kindern die Namen Smith und Malthus gegeben hat…!!

“Harte Zeiten” – der Inhalt

Die Saat – erstes Buch

Mr. Thomas Gradgrind aus Coketown ist kein Freund von geistigen Spielereien und Tagträumereien, er verlangt Tatsachen und Fakten, nur so wird eine Gesellschaft funktionieren und vorwärts kommen.

»Thomas Gradgrind, Sir. Ein Mann der Realitäten. Ein Mann der Tatsachen und Berechnungen. Ein Mann, der nach dem Grundsatz verfährt, dass zwei und zwei vier sind und keineswegs mehr, und den man nicht dazu bringen kann, irgendetwas anderes gelten zu lassen.«

Seite 6 aus Charles Dickens, »Harte Zeiten«, Roman, 223 Seiten, übersetzt von Christiane Hoeppener, erschienen 1963 im Wilhelm Heyne Verlag, München.

Und daher sollen nach Gradgrinds Willen schon den jungen Menschen in der Schule Tatsachen eingesät werden und mehr nicht. Keine Gedichte, keine Märchen, keine schöngeistige Literatur, nein, die jungen Köpfe werden nur mit Fakten und Zahlen gefüllt….

Unterstützt wird Gradgrind in seinem Tun und Denken vom Fabrikanten, Bankier, Unternehmer und Ausbeuter Josiah Bounderby, der damit prahlt, ein Selfmade-Mann zu sein, der sich aus der Gosse ohne elterliche Unterstützung hochgearbeitet hat. Sein häufig wiederholtes Credo lautet, Arbeiter hätten nur ein Lebensziel:

»Und dieses Ziel ist, Schildkrötensuppe und Rehbraten mit einem goldenen Löffel eingetrichtert zu kriegen. Nun, sie werden nie, keiner von ihnen, jemals Schildkrötensuppe und Rehbraten mit einem goldenen Löffel eingetrichtert kriegen.«

Seite 99 aus Charles Dickens, »Harte Zeiten«, Roman, 223 Seiten, übersetzt von Christiane Hoeppener, erschienen 1963 im Wilhelm Heyne Verlag, München.

Bei Mr. Bounderby lebt Mrs. Sparsit, eine Witwe aus besserer Familie, sie leitet seinen Haushalt. Mit der feinen Dame schmückt sich der Emporkömmling gern, um seine Leistung noch hervorzuheben. Mrs. Sparsit, eingebildet und arm, scheint ein Auge auf den reichen Bounderby geworfen zu haben.

Sissy (Cecilia) Jupe, ein Mädchen aus dem in Coketown gastierenden Zirkus, das zeitweise die örtliche Schule besuchen darf, entspricht nicht Gradgrinds Bild von einer Schülerin, die sich an Tatsachen orientiert. Als er auch noch die beiden ältesten seiner fünf Kinder, die »metallurgische Louisa« und den »mathematischen« Tom, dabei erwischt, heimlich einer Zirkusaufführung zuzuschauen, schiebt er das auf den Einfluss Sissys.

Gradgrind beschließt, Sissy den Schulbesuch zu verbieten. Als er mit seinem Freund Bounderby bei den Zirkusleuten vorspricht, hat Sissys Vater gerade die Truppe verlassen – ohne seine Tochter. Thomas Gradgrind, der streng genommen kein böser Mensch ist, nimmt das Mädchen in seine Familie auf, sie soll seiner kränkelnden Frau beistehen und wie die eigenen Kinder mit Tatsachen “gefüllt” werden.

Oh, Coketown, »Stadt der Maschinen und Schornsteine«, rote Ziegelsteinsteinhäuser, schwarz verfärbt vom Russ, der aus den Schornsteinen der Fabriken rieselt, die Landschaft ringsum von Kohlegruben unterhöhlt.

In Coketown ist ein Tag wie der vorherige und der nächste. Die Maschinen arbeiten, die Menschen funktionieren ähnlich Ameisen oder Bienen – und doch gibt es Unterschiede zwischen ihnen.

(Bild rechts: RitaE/Pixabay)

Harte Zeiten

Da ist Stephen Blackpool, ein ehrlicher Weber, der heimlich die gutherzige Rachael liebt, jedoch mit einer alkoholsüchtigen Frau verheiratet ist. Sie taucht von Zeit zu Zeit auf und nimmt ihm das Wenige, was er sich zwischenzeitlich erarbeitet hat. Und Stephen hat Angst, er könne ihr in seiner Verzweiflung und hilflosen Wut vielleicht etwas antun.

In seiner Not wendet sich Stephen an seinen Chef, Mr. Bounderby, und bittet ihn um Rat. Bounderby macht ihm klar, dass für arme Leute wie Blackpool eine Scheidung weder möglich noch bezahlbar ist.

Als Stephen das Haus Bounderbys verlässt, trifft er eine ihm unbekannte, ältere Frau, die das Gebäude beobachtet und ihn genau nach Bounderby ausfragt.

Einige Jahre sind ins Land gegangen. Bounderby macht der gut 30 Jahre jüngeren Louisa Gradgrind einen Heiratsantrag. Auf Anraten ihres Vaters und auf Drängen ihres egoistischen Bruders Tom, der sich als Angestellter bei Bounderby persönlichen Nutzen erhofft, willigt Louisa völlig emotionslos in die Verbindung ein. Durch ihre Erziehung kennt sie es ja nicht anders, als sich der Vernunft und den Tatsachen zu beugen.

Mrs. Sparsit, durch die Ehefrau im Haushalt überflüssig geworden, bringt Bounderby in einer behaglichen Position in seiner Bank unter. Hier residiert sie von nun an und hat ein Auge auf jeden und alles. Ihr assistiert der verschlagene Laufbursche der Bank, Bitzer, ein vollkommen gelungenes Exemplar der Tatsachenschule Mr. Gradgrinds…

Die Reife – zweites Buch

In Coketown taucht ein neues Gesicht auf: der junge Dandy und Parlamentsabgeordnete James Harthouse, gelangweilt vom Leben, zynisch und arrogant. Auf Empfehlung von Mr. Gradgrind, der mittlerweile als Politiker das Land mit Tatsachen beglückt, stellt er sich Josiah Bounderby vor. In Wirklichkeit interessiert ihn Gradgrinds Tochter, nun Louisa Bounderby.

Schnell merkt Harthouse, dass Louisa nur an einem Menschen etwas liegt: an ihrem Bruder Tom, der in seinen Augen ein ausgemachter Filou ist. Was liegt näher, als über Tom den Weg zu Louisa Herz zu finden. So sucht Harthouse die Freundschaft Toms, bemüht sich, Louisas Interesse zu erwecken und das Vertrauen der Geschwister zu gewinnen.

In Bounderbys Weberei bricht ein Arbeitskampf aus und Stephen Blackpool gerät zwischen die Fronten. Weder will er sich auf die Seite der für »goldene Löffel« Streikenden stellen noch auf die des ausbeuterischen Bounderbys -> Zitat Blackpool siehe https://www.meineleselampe.de/viktorianische-zeilenreise-kw-30/.

Harte Zeiten

(Bild links: Melmak/Pixabay)

Die anderen Arbeiter schneiden Blackpool und Bounderby feuert ihn – er soll seine Arbeit fertigmachen und dann verschwinden. Als Stephen das Haus verlässt, wartet draußen die treue Rachael auf ihn und wieder ist da die alte Frau, die so sehr an Bounderbys Wohlergehen interessiert ist und sich diesmal nach dessen Ehefrau erkundigt.

Stephen erzählt Rachael, dass er seine Arbeit verloren habe und nun Coketown verlassen werde. Er lädt Rachael und die alte Frau, die sich als Mrs. Pegler vorstellt, in seine Behausung auf eine Tasse Tee ein.

Louisa, die die Szene zwischen ihrem Ehemann und Blackpool miterlebt hat, sucht Stephen auf, um ihm mit etwas Geld zu helfen. Tom begleitet sie. Stephen ist bescheiden und leiht sich von Louisa lediglich zwei Pfund, sie wollte ihm viel mehr schenken.

Tom nimmt Stephen beiseite und gibt vor, ihm helfen zu wollen. Solange Stephen noch in Coketown zu arbeiten habe, solle er jeden Tag eine Stunde vor der Bank warten. Bitzer werde ihm mitteilen, wenn Tom ein Angebot für Stephen habe.

Stephen benötigt noch drei Tage, um seine angefangene Webarbeit zu beenden, jeden Tag wartet er vor der Bank, aber nichts tut sich. Also verlässt Stephen Coketown, um woanders Arbeit zu finden.

Nicht lang danach erschüttert Mr. Bounderby die Nachricht, dass in seiner Bank eingebrochen wurde. 150 Pfund sind gestohlen worden, Bounderby ist außer sich. Bald fällt der Verdacht auf Stephen Blackpool, der ja die Stadt verlassen hat und zuvor drei Tage lang vor der Bank gesehen wurde. Blackpool wird nun steckbrieflich gesucht. Louisa hat ihren Bruder Tom in Verdacht.

James Harthouse wirbt weiter um Louisa. Als er ihr seine Liebe gesteht, wehrt Louisa ihn ab. Sie kehrt zu ihrem Vater zurück und wirft ihm vor, ihre Seele mit seiner Tatsachen-Erziehung zerstört zu haben. Es muss ihr klar geworden sein, als sie ihre innere Verwandtschaft mit Mr. Harthouse und ihre Neigung zu einem Menschen wie ihm erkannt hatte.

»Ich weiß nicht, ob es mir leid tut; ich weiß nicht, ob ich mich schäme; ich weiß nicht, ob ich in meiner Achtung gesunken bin. Ich weiß nur, dass mich Deine Philosophie und Deine Lehren nicht retten werden. Dahin hast Du mich gebracht, Vater. Rette mich durch andere Mittel.«

Seite 166 aus Charles Dickens, »Harte Zeiten«, Roman, 223 Seiten, übersetzt von Christiane Hoeppener, erschienen 1963 im Wilhelm Heyne Verlag, München.

Die Ernte – drittes Buch

Nun geht es in »Harte Zeiten« an die Abrechnung, die Vernunftbesessenen und die Ausbeuter von Coketown werden ernten, was sie jahrelang gesät haben.

Heilende Wärme für ihre erstarrte Seele findet Louisa bei Sissy, die noch immer im Hause Mr. Gradgrinds lebt und sich seit dem Tod von Mrs. Gradgrind um die Geschwister Louisas kümmert. Sissy ist es auch, die zu Mr. Harthouse geht und ihm erklärt, er werde Louisa nie mehr wiedersehen, er solle Coketown verlassen.

Mrs. Sparsit, die schon seit Wochen Louisa und Harthouse ausspioniert hat, informiert Mr. Bounderby über die vermeintlichen zarten Bande zwischen Louisa und James Harthouse.

Bounderby stellt seiner Ehefrau ein Ultimatum: entweder kehrt sie binnen eines Tages zu ihm zurück oder sie sind getrennte Leute. Louisa entscheidet sich gegen ihre Ehe und bleibt bei ihrem Vater.

Bounderby nimmt sein Leben als Junggeselle wieder auf und macht weiter Jagd auf Stephen Blackpool, den er immer noch für den Bankräuber hält. Auch die alte Mrs. Pegler, die Stephen vor Bounderbys Haus getroffen hatte, steht unter Verdacht.

Rachael hat Stephen einen Brief geschrieben und ihm geschildert, wessen er beschuldigt wird. Sie bittet ihn, nach Coketown zurückzukehren. Doch bis zu dem Zeitpunkt, als Mr. Bounderby, Tom und Rachael bei den Gradgrinds vorsprechen, ist weder eine Antwort noch Stephen selbst gekommen.

Rachael hatte sich an den Abend nach Stephens Rauswurf erinnert, als Louisa und Tom ihn besuchten. Sie verdächtigt Louisa, etwas mit dem Raub zu tun gehabt zu haben…

Und jetzt, gerade wo es so spannend wird, verlassen wir Coketown – Spoileralarm. Denn Charles Dickens präsentiert so viele Enthüllungen und spannende Wendungen, die ich Euch bewusst vorenthalte, damit Ihr “Harte Zeiten” mit ungetrübter Neugier und Freude lesen könnt.

Ich verrate noch so viel: es werden neue Freundschaften geschlossen, im Tatsachenwahn Befangene werden klar- und einsichtig,

protzige Lügner werden entlarvt, es kommt Hilfe aus unerwarteter Richtung, Schuldige müssen büßen, Unschuldige leider auch und eigentlich gibt es nur für einen Menschen ein Happy End.

Harte Zeiten

»Harte Zeiten« – mein Fazit

Ein etwas anderer Dickens als ich bisher kannte! Diesmal geht er sparsamer mit seinem Humor um, verteilt ihn zart und in feiner Dosierung. Zudem fehlt in »Harte Zeiten« den Situationen das Grotesk-Absurde, den Figuren das Skurrile, Überzeichnete, diese typischen Merkmale eines Werks von Charles Dickens.

Schauplätze und Handelnde sind realer ausgeführt als in den anderen Romanen von Charles Dickens. Aber keine Sorge, der Roman trägt noch deutlich genug die Dickens’sche Handschrift: so ist der Erzählstil wie gewohnt poetisch und bildhaft (Maschinenkolben werden mit Elefanten verglichen), der soziale Protest ein wenig romantisch verklärt und die Menschlichkeit schimmert überall zwischen den Buchstaben hervor.

Ich finde »Harte Zeiten« ganz wunderbar und kann den Roman empfehlen!!!

»Harte Zeiten« – mein Lese-Exemplar

Charles Dickens, »Harte Zeiten«, Roman, 223 Seiten, übersetzt von Christiane Hoeppener, erschienen 1963 im Wilhelm Heyne Verlag, München.

Mein recht altes Exemplar gibt es höchstens noch in Antiquariaten oder auf Flohmärkten, es gibt jedoch eine modernere Ausgabe vom Insel-Verlag, sogar neu illustriert (auf Illustrationen hatte Dickens damals verzichtet):

oder eine Taschenbuchausgabe unter dem Titel »Schwere Zeiten« von 2014:

und nochmals »Schwere Zeiten« vom Reclam Verlag 2011:

»Harte Zeiten« – Quellen und Weblink

  1. Utilitarismus/John Stuart Mill u.a. -> https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/utilitarismus/6693
  2. Adam Smith -> https://de.wikipedia.org/wiki/Adam_Smith
  3. Thomas Robert Malthus -> https://www.britannica.com/biography/Thomas-Malthus

Dieser Beitrag vom 30. Juli 2021 wurde aktualisiert und anlässlich Charles Dickens’ Todestag nochmals am 9. Juni 2023 veröffentlicht.

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